Herrenhausen Klassik
"Welch ein schöner Rahmen für den Abschluss des diesjährigen "Herrenhausen Klassik"-Reigens. Das Wetter verführte noch einmal zum Flanieren, das Galeriegebäude war nahezu ausverkauft, und das Publikum erlebte eine vom Hannoverschen Oratorienchor und dessen Dirigenten Peter Francesco Marino zwingend dargebotene Umsetzung von Carl Orffs "Carmina Burana".
(HAZ, 02. Sep. 2008)
Das will etwas heißen, denn schließlich reiht sich zwischen der Anfangs- und Schlusshymne "O Fortuna" und um das jammervolle Lied des "gebratenen Schwans" herum (gerade köstlich: Tenor Edgar Schäfer) ein Hit an den anderen.
Trotzdem blieb es musikalisch spannend. Denn Marino hatte sich nicht für die Orchesterfassung entschieden, sondern für die Besetzung mit zwei Klavieren und sechs Schlagzeugern. Die garantierten dann nicht nur knackige Lautstärkesalven, sondern vor allem auch lichte und luftig schwebende Effekte etwa mit Triangel, Glöckchen, Schellen und Tamburin. Wobei die konditionsstarken Pianisten Matthias Zimmermann und Tim Ovens die Rolle der Hauptgaranten für Orffs rhythmischen Drive spielten.
Nicht immer hört man Orffs "Carmina Burana" auch mit so viel Mut zu leisen Tönen. Im "Veris leta facies" reduzierte Marino die Chorbesetzung obendrein beachtlich, riskierte damit viel - und gewann auf der ganzen Linie. Der Dirigent forderte den Chor bis haarscharf an dessen Grenzen - und ermöglichte erst so, ausgetretene musikalische Pfade zu verlassen. Stephanie Forsblad (Sopran) und Albrecht Pöhl (Bariton) sorgten schließlich als Solisten noch dafür, dass nicht nur die Sauf- und Liebeslieder schmelzend bis opulent daherkamen. Kein Wunder, dass langer und intensiver Beifall die Konzertsaison in Herrenhausen beschloss."
Der Hannoversche Oratorienchor überzeugt in der Markuskirche Hannover mit Anton Bruckners selten zu hörender Messe in f-Moll
VON ANDRÉ MUMOT (HAZ, Nov. 2007)
Nicht erst am Schluss leuchtet hier die Transzendenz. In Bruckners großer Messe in f-Moll dominiert vom ersten kyrie an der Blick von oben, eine Art jenseitige Panoramaperspektive, in der sich auch die Gesangssolisten keine ariösen Alleingänge erlauben können - weil sie nur Teile sind im göttlichen Gesamtgetriebe, nur kurz hervorgehobene Stimmen in der großen Glaubenssinfonie für Chor und Orchester. Aber vielleicht erschüttert auch deshalb der Moment im "Credo" so sehr, wenn Tenor Jörg Eichler in stiller Verwebung mit der ersten Geige die Menschwerdung Christi bis zur kreuzigung dramatisiert, bei der sich dann majestätisch der Chor eingeschaltet und zur gleißenden Aufherstehung überleitet, in der sich die für Bruckner so typische ansteigende Streichereskalation entfaltet.
In der Markuskirche jedenfalls bewegte sich die selten zu hörende Bruckner-Messe ohne drückenden Pomp in überweltlichen Sphären. Unter Peter Marinos Leitung überzeugte der Hannoversche Oratorienchor als warme, gut artikulierte Klangeinheit, deren schwebende Dringlichkeit vom prager Sinfonieorchester Bohemia angemessen (wenn auch nicht immer mit besonders zupackender Schärfe) getragen wurde. Neben Gast Thomas Wittig (Bass) trugen Tenor Eichler, Alla Kravchuk (Sopran) und Okka von der Damerau (Alt) aus dem Ensemble der Staatsoper mit ihren pointierten Einsätzen zur Verdichtung bei: Sie stellten sich ganz in den Dienst des Werks und der selbstlosen Verflechtung aller Stimmen. Und dabei nimmt all das abgegriffene Gerede von der Transzendenz dieser Musik echte Gestalt an - nicht als Wunsch, sondern, gottlob, als nicht zu leugnende Tatsache.
„Der fliegende Holländer“ mit der NDR Radiophilharmonie
VON STEFAN ARNDT (HAZ zum Konzert 22. Sept. 2013)
Da muss der große Alte auf seinem Stuhl in der Bühnenecke doch einmal anerkennend mit dem Kopf nicken. So musikalisch gestaltet hat selbst Matti Salminen den Auftrittsmonolog des Holländer noch nicht oft gehört. Der finnische Bassist hat als Daland gerade seinen Steuermann abgefertigt und verfolgt nun von der Seite das Geschehen im hannoverschen Kuppelsaal. Die NDR Radiophilharmonie startet hier mit einem spektakulären Konzert in die Saison: eine konzertante Aufführung von Wagners „Fliegenden Holländer“ mit Weltklassebesetzung.
Salminen, nach 40 Jahren auf der Bühne doch immer erste Wahl als Daland, ist dabei nur einer unter vielen. Aus Samuel Youn hat in der Titelrolle schon bei den Bayreuther Festspielen reüssiert. In Hannover zeigte er nun, warum: Statt des Gebells, das nicht wenige Holländer-Sänger anstimmen, sucht er die weiten Linien in seiner Partie und findet Melodien, wo man sonst oft nur Gepolter hört. Aus dem mürrischen Verfluchten wird so ein sensibler Schmerzensmann; sein Holländer ist kein Schreckgespenst, sondern ein Mann, mit dem man Mitleid haben kann.
Das erklärt vieles. Zum Beispiel die Handlung der Oper, in der einen junge Frau bereit ist, sich liebend für den Holländer aufzuopfern, damit er endlich sterben kann statt ewig die Weltmeere zu kreuzen. Was Regisseure oft umständlich verdeutlichen müssen. Ist bei dieser konzertanten Version einfach zu hören: Das beeindruckt nicht nur Matti Salminen.
Der ist selber einer der großen Aktivposten des Abends: Er singt den stets auf ein gutes Geschäft bedachten Daland prägnant als jovialen Grobian – ein Mann, der seine Interessen durchzusetzen weiß und doch immer die Form wahren kann. Auch Benjamin Bruns, dessen Karriere vom Knabenchor Hannover nach Bayreuth geführt hat, und Alexandra Petersamer sind als Steuermann und Mary sehr überzeugend. Anja Kampe ist eine beeindruckende Senta, wohingegen Endrik Wottrich mit flackerndem, gepresstem Tenor schon deutlich aus der Reihe fällt.
Eine sichere Bank sind dagegen die Chöre, die den gesamten Balkon im Kuppelsaal füllen: Johannes-Brahms-Chor, Hannoverscher Oratorienchor und Mitglieder des Opernchores tönen zusammen zwar eher nach Nordmeerflotte als nach der Besatzung eines bescheidenen Segelschiffs – beeindruckend ist das aber allemal. Und wenn der Mädchenchor Hannover die Spinnstube füllt, dann klingt das trotz der Masse so frisch und jugendlich, wie man es sich immer gewünscht hat.
Eivind Gullberg Jensen, als Organisator hier ganz in seinem Element, hat das Geschehen (manchmal zu) fest im Griff, und die Radiophilharmonie macht trotz kleinerer Fehler auch als Opernorchester eine sehr gute Figur. Ein starker, am Ende begeistert gefeierter Saisonauftakt.
Hannoverscher Oratorienchor mit Spohr und Hindemith
VON AGENS BECKMANN (HAZ zum Konzert am 3. Nov. 2013)
Die Begriffe ungewöhnlich und ausgefallen können den Werken, die der Hannoversche Oratorienchor in der Markuskirche präsentiert, auf jeden Fall attestiert werden. Zudem sind die Stücke eigenwillig angeordnet. Louis Spohrs gemäßigtes Oratorium „Die letzten Dinge“ wird quasi aufgebrochen durch die zwischen dem ersten und zweiten Teil eingefügten Sätze aus der Paul-Hindemith-Kantate „Appareberit repentina dies“. Danach, so die Intention von Dirigent Stefan Vanselow, werde man den zweiten Teil des Oratoriums anders hören.
Besonders bei den dramatischen Passagen begeistert Tenor Jörn Eichler mit seinem warmen Timbre und seiner farbenreichen Stimme. Young-Myoung Kwon mit seinem dunkelschönen, satten Bass steht ihm in nichts nach. Tanja Lea Eichler glänzt durch leidenschaftlichen ausdrucksstarken Sopran, ebenso gefällt Monika Walerowicz mit sinnlichem Mezzo und bewegendem Ausdruck. Die Nordwestdeutsche Philharmonie leitet beide Teile mit ausgedehnten Passagen ein. Mit schönen Klangfarben und, wo nötig, mit dramatischem Impetus gelingt es Vanselow, einen spannungsgeladenen Bogen über den Verlauf der Handlung zu legen. Der Chor überzeugt durch stimmgewaltige, ausladende Breite und erfreut mit eindringlicher Textgestaltung und ergreifenden Klagen. Ob die Zuschauer den zweiten Teil wirklich anders hören, bleibt ungewiss. Gewiss (da hörbar) ist, dass ihnen der Abend gut gefallen hat.
Der Hannoversche Oratorienchor in der Markuskirche
VON ANDRÉ MUMOT (HAZ, 30. Nov. 2009)
Wenn einem ein Chor zur Verfügung steht, der solch seidigsanften Wohlklang herzustellen weiß, kann man ihm auch getrost solch ein Stück auf den vielstimmigen Leib schneidern. Peter Francesco Marino, Leiter des Hannoverschen Oratoriencbores, hat das Gedicht „Der Tod, das ist die kühle Nacht" von Heinrich Heine vertont und damit „seinem" Ensemble Möglichkeit zum Glänzen gegeben. Von verhaltenen Streichern begleitet, lassen sich die Sängerinnen und Sänger ätherisch ins Jenseits forttreiben, machen das zehnminütige Werk zum ungebrochen Schwelgen in Tod und Verklärung.
Aber diese wehmütige Lebensaushauchung ist nur die Einstimmung zum großen Konzert in der Markuskirche. Hauptsächlich geht es um Antonin Dvoraks „Stabat Mater", also um anderthalb Stunden großer romantischer Trauermusik. Um ein Oratorium, das ergreifen muss, wenn es funktionieren soll, schließlich hat Dvorak hier die eigene Verzweif1ung über den Tod seiner Tochter verarbeitet. Jede Note ein Schmerz und zugleich ein Versuch, mithilfe der Kunst durchzuhalten, Hoffnung zu gestalten.
Das „Prager Symphonieorchester Bohemia" scheint in den ersten Takten noch im Ungefähren zu bleiben, tastet sich unentschlossen voran. Umso entschiedener absolvieren die Musiker dann aber die machtvolle Steigerung, die das Publikum mitten hineinkatapultiert in die tosenden Verzweiflungsstürme. Hier müssen sich auch die Solisten bewähren, um den großen Orchesterwogen empfindliche Innerlichkeiten entgegenzusetzen. Sopranistin Stephanie Forsblad hat dabei mit einer Erkältung zu kämpfen und kann sich nicht immer durchsetzen. Dafür kommt dann aber die verletzliche Zartheit ihrer Phrasierung besonders eindringlich zur Geltung. Altistin Ilona Markarova und Bass Shavlek Armasi steigen mit spannungsvoller Verve in die Traurigkeiten ihrer Partien, und Tenor Dirk Schmitz überzeugt mit metallisch scharfer, gleichwohl flexibel lyrischer Stimme.
Orchester, Chor und Solisten finden nicht nur zu klanglicher Homogenität, sondern auch zu einer gemeinsamen Aufgabe: die tiefe, innere Betroffenheit von Dvoraks bekenntnishaftem Werk so auszuformen, dass man im Publiktun gar nicht anders kann, als sich rühren zu lassen.